Mittwoch, 9. November 2005

Taxi nach Paris

ein erhellender augenzeugenbericht aus frankreich
findet sich auf indymedia:

"Meine Eindrücke von Freitagnacht 06.11.2005 17:21

Wir waren die Nacht von Fr auf Sa in den Banlieus unterwegs. Überraschenderweise ist die Polizeirepression ganz anders als in Deutschland. Der Geruch von Brand lag über ganzen Ortschaften, die Läden schlossen früher, es gab keinen öffentlichen Nahverkehr mehr, weil die FahrerInnen wegen der Gewalt nicht mehr arbeiten. Es waren wenig Leute unterwegs, einige gingen ihren normalen Geschäften nach, sonst in erster Linie Gruppen männlicher Jugendlicher, die abhiengen, abwarteten, was erleben wollten.

Und sehr viel Zivilpolizei. Diese Beamten sehen aus wie brutale Trinker, sind zu dritt oder viert in verbeulten Kleinwägen unterwegs und haben Funkkontakt. An den Eingängen zu den Hochhaussiedlungen steht entweder Zivilpolizei, manchmal auch Kontrollposten der Jugendlichen. Jedenfalls spricht es sich schnell rum wenn die Polizei ins Areal kommt. Irgendwo im Viertel trffen sich die jugendlichen Männer. Einmal haben wir dennoch erlebt, wie ein Überfall durch drei Wägen Zivilpolizei gelungen ist und drei Jugendliche brutal verhaftet worden sind. Die politische Polizei, die vom Innenministerium kontrolliert wird, die Riot-Cops, halten sich hingegen zurück. in Deutschland würde es in einer solchen Situation von ihnen nur so wimmeln.

Wir haben hingegen keine einzige Straßensperre, Verhaftung oder Konfrontation mit uniformierter Polizei beobachtet. Sie wartet irgendwo außerhalb der Ghettos und wenn ein Auto brennt, dann fährt sie gemeinsam mit der Feuerwehr dorthin und steht dort ne halbe Stunde rum. Jugendliche sind aber dann keine mehr dort. Die Ortschaften, in denen die meisten Autos brannten sind sehr groß und die Lage ist insgesamt nicht kontrollierbar, außer die Repression würde Ausmaße a la Castor in Deutschland annehmen, was aber nicht der Fall ist. So hängen jede Menge Jugendgruppen herum und wollen es auch einmal ausprobieren. Wenn die Luft rein ist, stecken sie in Seitenstrassen oder auf großen Parkplätzen Autos an.

Nach welchem Prinzip diese ausgewählt werden war nicht ersichtlich: Wir sahen relativ viele ausgebrannte LKW, von den PKW waren die meisten, die wir sahen, auf den Parkplätzen der Hochhaussiedlungen angezündet worden. Das spricht natürlich dafür, dass die Krawalle sehr unüberlegt und unkoordiniert sind. Auf der anderen Seite wirkt die Strategie der Jugendlichen doch koordiniert: Sie wissen, wann und wo die Polizei kommt, meiden die direkte Konfrontation. Es wirkt ein bischen so, wie in diesen Parks, wo mensch ganz entspannt Drogen kaufen kann, die irgendwo in einem Busch gelagert werden, überall hängt jemand rum und alle halten die Augen offen. Die jahrelange Repression hat in den Vierteln offenbar effiziente Gegenstrategien vorgebracht.

Allgemein ist das Verständnis für die Handlungen der Jugendlichen in den Medien und unter den Leuten erstaunlich hoch, gerade angesichts der Willkür mit der die Autos und Gebäude (bspw. eine Musikschule, die eben leicht zugänglich war) ausgewählt werden. Die religiöse und geschlechtliche (und hier kommt einem das Grausen) Dimension wird kaum thematisiert. In Deutschland und Holland wären solche Krawalle gleich mit Kampf der Kulturen und dem Schrei nach härterem Vorgehen gegen "Extremisten" kommentiert werden, während der Diskurs in Frankreich eindeutig links geprägt ist.

Nicht Rassen, sondern Klassen stehen im Vordergrund, nicht die Gewalt empört, sondern die Hoffnungslosigkeit und Armut. Der Innenminister erntet für seine Devise "Zero Tolerance", die er tatsächlich gar nicht umsetzt, massive Kritik ("Alle hassen Sarkozy" haben 2 Leute gesagt, die von den Riots nicht begeistert waren). In erster Linie scheint es die örtliche Polizei zu sein, die einen rassistischen Privatkrieg führt und die Sache weiter anheizt.

Ansonsten ist es halt auch eine Strategie, die leicht Nachahmer findet. Es ist wirklich kein Problem, ein Auto anzuzünden und jetzt halt irgenwie cool. Dass dies aber scheinbar wahllos geschieht, macht sie auch ziel- und sinnlos irgendwie. Wie gesagt, in Deutschland ginge so ein Schuss voll nach hinten los: Mehr Polizei, mehr Rassismus, mehr Gewalt.

Zur Siedlungsstruktur, die oft als Ursache in den Medien genannt wird:
Ich hatte mir das viel schlimmer vorgestellt. Tatsächlich sind die Hochhaussiedlungen nicht größer, als in anderen Städten dieser Größenordnung, kleiner als in mancher Ostdeutschen Stadt (z.B. Jena-Lobeda) und nicht mit Osteuropa zu vergleichen. Die Vorstädte sind durchaus zergliedert: Ein alter Stadtkern, drumherum neue Gewerbezonen, Einfamiliensiedlungen und eben Hochhaussiedlungen. Evtl. ist allerdings die soziale Zusammensetzung der Siedlungen deutlich homogener, konnte ich nicht einschätzen. Trostlos haben sie v.A. gewirkt, weil der öff. Nahverkehr nicht lief und auch sonst schlecht ist, die weiten Strecken zwischen Wohn und Konsumbereichen lassen einE sich sehr verloren vorkommen. Außerdem wirkt die Dominanz des männlichen Geschlechts im öffentlichen Raum sehr bedrohlich, was wohl auch in normalen Zeiten so ist.

Zum Medienbild: Paris brennt nicht. Es ist die übliche Verzerrung, wer jetzt aus Paris berichtet, der muss natürlich über Gewalt berichten und brennende Autos fotographieren, All das, was normal weiterläuft fällt untern Tisch. Dazu ne kleine Anekdote:

An einer Tankstelle trafen wir andere, die sich als Journalisten ausgaben. Wir sprachen gemeinsam mit einer recht harmlos wirkenden Gruppe Jugendlicher. Die Journalisten fragten, wo es denn heute Nacht noch brennen würde. Die Jugendlichen hatten sicher keine Ahnung, aber sagten, für 800 €uro würden sie die Journalisten "hinbringen". Es wurde verhandelt und am Schluß sah es so aus, als ob die Jugendlichen für 50 €uros nen Auto anzünden würden. Nen gutes Bild mit Story bringt bei dpa oder irgend einer Zeitung bestimmt mehr Geld. Es kam dann allerdings zu keinem Handel..."

come down, george...

aftaaua

bilder von der argentinischen anti-bush-demonstration auf argentina.indymedia.org.

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